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Titel
Mythos Rütli. Geschichte eines Erinnerungsortes. Mit zwei Beiträgen von Josef Wiget


Autor(en)
Kreis, Georg
Erschienen
Zürich 2004: Orell Füssli Verlag
Anzahl Seiten
272 S.
Preis
URL
Rezensiert für infoclio.ch und H-Soz-Kult von:
Christine Lustenberger

Das Thema «Erinnerung» hat Hochkonjunktur in der Geschichtswissenschaft. Angeregt durch Pierre Noras Arbeit über französische Erinnerungsorte von 1984 entstanden vergleichbare Studien für andere Länder. Pünktlich zu den diesjährigen Schiller-Festlichkeiten ist nun ein Buch erschienen, das den schweizerischen Erinnerungsort par excellence zum Thema hat. Das Rütli ist im nationalen Gedächtnis als der Anfangspunkt der Eidgenossenschaft verankert, fristet aber im Schatten von Wilhelm Tell ein ruhiges Leben. Die Intention des Buches ist, der Entstehung des Mythos Rütli nachzugehen und darzustellen, wie es im Verlaufe der Jahrhunderte genutzt wurde und welche Funktionen das Rütli für sich allein, beziehungsweise im Vergleich und in Verbindung mit den anderen Elementen der Ursprungsgeschichte, im schweizerischen Geschichtsbewusstsein spielt und gespielt hat. Dabei möchte der Autor keine «wertende Haltung» (S. 8) einnehmen, trotzdem lässt er zumindest eine kritische Haltung in ironischen Passagen durchschimmern. Das Buch reiht sich nicht in die Linie der Mythenentlarvungen ein – die im 18. Jahrhundert und dann wieder in den 1960er Jahren besonders populär waren –, sondern entspricht dem heutigen historiographischen Trend, die Funktionen des Gegenstands im jeweiligen zeitlichen Kontext zu untersuchen.

Das Buch ist angereichert mit zwei Beiträgen des ehemaligen Schwyzer Staatsarchivars Josef Wiget und zusätzlich mit einem umfangreichen Bildteil ausgestattet, der die Bedeutung und Inanspruchnahme des Rütli im Laufe der Zeit eindrücklich dokumentiert.

Kreis steigt ein mit einem Überblick über die heutige Nutzung des Rütli, wobei er dem Leser zu bedenken gibt, dass die genannten Aktivitäten «mehr über die aktuelle Gesellschaft [...] als über die alte Geschichte» (S. 11) aussagen. Die grosse Bandbreite der Nutzung des Rütli wird bereits im Eingangskapitel fassbar und erweitert sich im Buchverlauf noch um ein Vielfaches. Zur Alltagsnutzung des Rütli für Familien-, Schul- oder Vereinsausflüge kommt die militärische Nutzung in Form von Fahnenübergaben oder Beförderungszeremonien sowie die Nutzung im offiziellen Rahmen für Staatsbesuche und die Bundesfeiern. Anschliessend an Beispiele für die Verwendung des Rütlimotivs in der politischen und kommerziellen Werbung leitet Kreis in die Frage über, ob das Rütli als «Spiegelbild der Nation» (S. 24) gelten kann. Wird nur die örtliche Nutzung beachtet, kann man mit dem Autor einig sein und konstatieren, dass die Spiegelung verzerrt ist, weil «gewisse Kräfte das Rütli mehr nutzen als andere» (S. 24).

Ein gewichtiges Ereignis in der Geschichte des Rütli ist die Versammlung der Armeeführung zum Rütlirapport. Kreis beseitigt hier die gängige Meinung, dass es sich um eine Fahrt mit geheim gehaltenem Ziel handelte – wohl eine Legende in Anlehnung an diejenige der geheimen Zusammenkunft der Drei Eidgenossen. In den Folgejahrzehnten fanden je nach Bedarf Reinszenierungen des Rütlirapports statt – so 1999 als sich vornehmlich Männer der Aktivdienstgeneration auf dem Rütli trafen, um dem Geschichtsbild zu huldigen, das Ende der 90er Jahre ins Kreuzfeuer der wissenschaftlichen Kritik geraten war. Einen Höhepunkt im «Rütlikult» (S. 35) bildete die Bundesfeier von 1941, bei der Kreis den «Hang zu einem archaischen Spiritismus» (S. 39) abliest. Der Gewaltsfestakt war auf drei Tage verteilt und gipfelte in einen doppelten Schwur: die Inszenierung der schillerschen Schwurszene war der Auftakt für die Erneuerung des Schwurs durch alle Eidgenossen, die mittels dem Radio den Geschehnissen auch beiwohnen konnten.

Der Vorgeschichte des heutigen Gebrauchs des Rütli wenden sich die nächsten Kapitel in chronologischer Folge zu. Im 17. und frühen 18. Jahrhundert führten die Urschweizer Kantone sporadisch Zusammenkünfte auf dem Rütli durch. So war die Niederlage der katholischen Orte beim Zweiten Villmergerkrieg Anlass für ein Treffen der Urkantone auf dem Rütli zur Besprechung der gemeinsamen Notlage. Im Verlaufe des 18. Jahrhunderts wurde die Schweiz als Reiseland in Europa sehr beliebt, und damit einher ging die Entdeckung neuer Sehenswürdigkeiten. Im Rahmen pädagogischer Anstrengungen propagierte die «Helvetische Gesellschaft» die Entdeckung der Heimat, und das Rütli wurde zu einem «Fixpunkt der patriotischen Topographie» (S. 90) bestimmt. Die Verbindung des Rütli mit dem idealen Wert der Freiheit verfestigte sich gegen Ende des Jahrhunderts. In diese Zeit fiel auch das Projekt von Abbé de Raynal, ein Freiheitsdenkmal auf dem Rütli zu errichten. Raynal blitzte mit seinem Anliegen bei den Urner Behörden ab, denn die Schlichtheit des Ortes sollte erhalten bleiben – passend zum Selbstverständnis der Eidgenossen. Der Denkmaldiskurs ist im Buch durchgängig. Kreis zeigt die zahlreichen unternommenen Anstrengungen für die Errichtung eines Denkmals auf dem Rütli. Schliesslich erhielt das Rütli mit der Fassung der Quellen durch einen Brunnen ein künstlich angelegtes Naturdenkmal, das die Stelle des Schwöraktes bezeichnen soll. Eine Geschichte des Bewahrens ist auch diejenige des Erwerbs des Rütli durch die Schweizerische Gemeinnützige Gesellschaft 1859. Die Wiese wurde damit vor der Überbauung durch ein Hotel behütet.

Die Nutzung des Rütli im 19. Jahrhundert bespricht Kreis unter dem Aspekt der Entstehung eines «Nationalheiligtums» (S. 105) und bewertet den damaligen Rückgriff auf die Vergangenheit als Reaktion auf die anbrechende Modernisierung und den beschleunigten Wandel. Die Ausführungen lassen deutlich werden, dass es sich beim 19. Jahrhundert für das Rütli um das traditionsbildende handelt. So wurde in den 1860er Jahren das Rütlischiessen zur Institution, nach langem Ringen der beteiligten Innerschweizer Kantone um die Form. Der Anlass wurde mit rituellen Inhalten gefüllt, wie Preisverleihung, Verpflegungsart und Ansprache. Je nach sozialen und politischen Bedürfnissen erfuhr die Tradition Anpassungen. Schliesslich etablierte sich auch eine Traditionsvariante: Seit 1937 findet ebenfalls auf dem Rütli ein Pistolenschiessen statt. Eine weitere traditionsbildende Massnahme wurde vom jungen Nationalstaat bezüglich des Nationalfeiertags ergriffen. Die Wiederentdeckung des Bundesbriefes setzte eine nationale und lange andauernde Debatte über die Datierung der Entstehung der Eidgenossenschaft in Gang. Das Jahr 1291 wurde schliesslich dem von Tschudi zur Verfügung gestellten Jahr 1307 vorgezogen und vom Bund zum offiziellen Gründungsjahr bestimmt. Das war jedoch kein Hindernis, nach 1891 eine zweite offizielle 600-Jahr-Feier 1907 durchzuführen. Bereits aufgenommen und dem eigenen Geschichtsbild einverleibt, gehörte Schillers «Wilhelm Tell» zum Festkern von 1891.

Gilt im engsten Sinn das Rütli als nationale Wiege, sind es im weiteren die drei Urkantone, deren vermeintliche Einigkeit der eingebaute Beitrag von Josef Wiget zum Thema hat. Die Verschiedenheit der Urschweiz und die oftmals kollidierenden Interessen beleuchtend, relativiert Wiget die Einigkeit auf eine solche «von Fall zu Fall» (S. 141). An gesamteidgenössischen Anlässen präsentieren sich die Urkantone aber gerne als «Eintopf Urschweiz» (S. 141) – ganz dem nationalen Geschichtsbild entsprechend.

Die beiden abschliessenden Kapitel konzentrieren sich auf das mit dem Rütli in Verbindung gebrachte Schlüsselereignis der Befreiungstradition – den Schwur. Zwar nicht uninteressant aber konzeptuell entbehrlich sind die ausführlichen Bemerkungen zu den verschiedenen Eidformen und ihrer sozialen Bedeutung. Am Rande wird das Rütli auch in Beziehung gesetzt zu den Drei Bundesschwörern, zum Bundesbrief und zu Tell um grundsätzlich festzuhalten, dass es sich jeweils um separate Komplexe handelt, die sich im nationalen Geschichtsbild vermischt und vereint haben. Dies bestätigen die Ausführungen zum Rütlimotiv und schwergewichtig zum Schwurmotiv im Kunstschaffen. Für frühe Rütlidarstellungen ist die Koppelung mit den Drei Schwörenden nicht zwingend, sie stellen den Prozess der Landnahme und das Rodungsgeschehen in den Vordergrund (Petermann Etterlin). Umgekehrt kommen frühe Darstellungen der Schwurszene ohne das Rütli aus. Heute sind der Schwur und das Rütli zu einer Einheit verschmolzen, so dass an dem Erinnerungsort «nur gerade dieser erhabene Moment» (S. 174) erinnert wird.

Kreis wartet mit einer eindrucksvollen Menge an Text- und Bildmaterial zur Rütlithematik auf und liefert auch zahlreiche Anekdoten und Skurrilitäten zur Nutzung unseres nationalen Erinnerungsortes. In der grossen Fülle und zeitlichen Streuung des Materials geht zwischendurch die Stringenz der Darstellung unter. Eine durchgehende Einflechtung in ein analytisches Netz, das zum Beispiel im Erinnerungsdiskurs oder im Traditionsdiskurs hätte bestehen können, wäre als Leserführung hilfreich gewesen. Die Formen der Rütlinutzung stehen zu vereinzelt da, wodurch ein tendenziöser Eindruck entsteht. Die Thematisierungen des Ortes (Rütli) und dessen Hauptakteure bzw. deren Handlung (Schwur) sind oft zu wenig auseinander gehalten und vermischen sich, womit dem gängigen Geschichtsbild von der unauflöslichen Einheit von Rütli und Schwur entsprochen wird. Insgesamt vermittelt das Buch aber einen facettenreichen Einblick in die eidgenössische Erinnerungskultur anhand eines aufschlussreichen Beispiels.

Zitierweise:
Christine Lustenberger: Rezension zu: Georg Kreis: Mythos Rütli. Geschichte eines Erinnerungsortes. Mit zwei Beiträgen von Josef Wiget. Zürich, Orell Füssli Verlag, 2004. Zuerst erschienen in: Schweizerische Zeitschrift für Geschichte, Vol. 54 Nr. 4, 2004, S. 446-451.

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Zuerst veröffentlicht in

Schweizerische Zeitschrift für Geschichte, Vol. 54 Nr. 4, 2004, S. 446-451.

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